Deutsche und Polen –
Nachbarn seit 1000 Jahren


Vorwort

Natürlich kann man in jedem Nachbarschaftsverhältnis eine Fülle von feindlichen Handlungen und von feindseligen Äußerungen über den Nachbarn finden und sie für vergangene Jahrhunderte so zusammenstellen, dass sich eine deprimierende Kette von Beispielen und Untaten ergibt. Wollte man danach aber das Gesamtverhältnis beurteilen, dann verführe man ebenso wie ein Geograph, der die Durchschnittsmeereshöhe eines Landes nur nach den zwanzig höchsten Erhebungen errechnen und die den Gesamtcharakter eines Landes viel stärker bestimmenden Ebenen nicht berücksichtigen wollte.

Umgekehrt wird man sich davor hüten müssen, durch die Zusammenstellung einer großen Anzahl von Beispielen positiven Verhaltens und freundlichen Äußerungen das trügerische Bild einer andauernden Idylle zu entwerfen. Freilich ist die letztere Gefahr einer Verzeichnung weit geringer, denn dem menschlichen Gedächtnis prägen sich nun einmal die dramatischen Ereignisse viel stärker ein als das eintönige Geschehen des Alltags, das ohne Spannung und Dramatik verläuft. Gerade in dieser nüchternen Alltäglichkeitsatmosphäre spielt sich aber nach-barliches Zusammenleben ab, mit vielen kleinen Einzelereignissen, die jedes für sich genommen nicht erwähnens- und berichtenswert sind, sondern erst durch ihre Aufsummierung und ihre Häufigkeit Gewicht bekommen.

Was für das Gedächtnis des Einzelmenschen gilt, lässt sich auf die Geschichtsschreibung und das von ihr und der Literatur geprägte Gedächtnis ganzer Völker übertragen. Festgehalten und oft ausführlich beschrieben wird das Besondere, das Dramatische, selbst dann, wenn es für die Gesamtentwicklung gar nicht besonders bedeutungsvoll war, eben nur, weil es sich aus dem Alltag heraushob. Selbst ein Stadtchronist, der doch meist eng mit dem Leben der Bürgerschaft verbunden war, verzeichnete sorgfältig nicht nur den Brand eines Stadtviertels, sondern eines einzelnen Hauses, selbstverständlich auch eine die Bürger vielleicht besonders erregende Mordtat. Aber niemals kam er auf den Gedanken, auch vom Bau einzelner Häuser oder vom friedlichen Leben einiger Bürger zu berichten. Selbst Bauten großer bedeutender Kirchen, für die eine ganze Bürgerschaft Opfer zu bringen hatte, tauchen in den Chroniken oft nur dann auf, wenn etwa ein Turm einstürzte oder ein Maurer sich beim Fall vom Gerüst das Genick brach.

Will man dagegen wissen, wie sich das wirkliche tägliche Leben in der Stadt abspielte, dann darf man nicht allein zur Chronik greifen, sondern muss die Tauf-, Sterbe- und Heiratsregister durchmustern, muss Rechnungen und Ratsprotokolle studieren, Bürgerlisten und Prozessakten lesen, um wenigstens das Faktengerippe zu kennen, um ein Bild von der Zahl der Einwohner, ihrer sozialen Zusammensetzung, ihrer beruflichen Tätigkeit und ihrer Lebensgewohnheiten zu bekommen. Das ist unendlich viel mühsamer als die Schilderung von Bränden, Belagerungen, Unglücksfällen aller Art, für die das Quellenmaterial viel geschlossener und übersichtlicher ist. Um die Wirklichkeit im Leben von Völkern und Staaten zu erfassen, ist es notwendig, nicht nur das erregende, sensationelle geschehen zu registrieren, das sich meist auf einige wenige Jahre, oft nur auf Tage konzentriert, sondern die Alltagsvorgänge, die meist nüchtern und undramatisch sind. Oft zeigen sich dabei überraschend neue Gesichtspunkte, machen deutlich, dass es nur selten im politischen wie im kulturellen Geschehen hier Schwarz und da Weiß, hier Soll und da Haben gibt, sondern dass zwischen Schwarz und Weiß unendlich viele Grautöne liegen.

Es ist äußerst schwierig, genau abzuwägen, bei wem das Geben und bei wem das Nehmen überwiegt. Viele Einzelheiten aus dem Alltag geben den großen Ereignissen und Persönlichkeiten, die so oft in einprägsamen Bildern dargestellt werden, ein anderes Gepräge. Aber es schafft eben doch eine andere Perspektive, wenn man bei der Schilderung der Huldigung des Hohenzollern Herzog Albrecht von Preußen vor König Sigismund I. von Polen, an die noch heute eine Gedenkplatte auf dem Krakauer Markt erin-nert und die Jan Matejko in einem seiner Kolossalgemälde dargestellt hat, weiß, dass hier Onkel und Neffe einander gegenüber-standen, und zwar zwei Verwandte, die ei-nander hassten, sondern die persönliche freundliche Briefe wechselten. Auch der polnische Nationalheld Henryk Dąmbrowski, dessen Name im Refrain der polnischen Nationalhymne „Noch ist Polen nicht verloren“ verewigt ist, erscheint in einem etwas anderen Licht, wenn man weiß, dass er eine deutsche Mutter hatte, eine glühender Verehrer Schillers war und zunächst gern einen Hohenzollern auf dem polnischen Thron gesehen hätte.

Diese Beispiele lassen sich beliebig ver-mehren, und der aufmerksame Leser wird sie überall in großer Zahl finden. In den Thorner Nachrichten wird seit Jahrzehnten der Versuch gemacht, die mehr als tausend Jahre einer vielgestaltigen und vielschichtigen Nachbarschaft nicht von den Konflikten, den Spannungen, den kämpferischen Auseinandersetzungen, sondern vom Alltag und von den vielfältigen deutsch-polnischen Wechselwirkungen her zu schildern. Ge-gensätze und Auseinandersetzungen werden dabei nicht verharmlost oder ver-schwiegen, aber stehen nicht, wie so häufig und gewiss zu häufig, im Vordergrund, so dass sie alle anderen Einzelheiten des großen Mosaikbildes einer Nachbarschaft verdecken. Damit soll nicht primär eine Verklärung der Geschichte betrieben werden, aber ein Abrücken von den Klischees, von den Schablonen und Vorurteilen, ja auch von den Denkmälern bringt es gewiss mit sich.

Wenn die vorliegende Zeitung dazu beiträgt, die Nachbarschaft unserer beider Völker in der Vielzahl ihrer Wechselfälle und Wandlungen aufzuzeigen, wenn sie gleichzeitig Stoff zum deutsch-polnischen Dialog liefert und damit zu Fragen und eigener Forschung anregt – dann hat sie ihren Zweck erfüllt.